02 11 15

Die Geschichtenerzähler machen wei­ter, die Autoindustrie macht wei­ter, die Arbeiter machen wei­ter, die Regierungen machen wei­ter, die Rock’n’Roll-Sänger machen wei­ter, die Preise machen wei­ter, das Papier macht wei­ter, die Tiere und Bäume machen wei­ter, Tag und Nacht macht wei­ter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die bewegt wer­den, Bewegungen in den Zimmern, durch eine Wohnung, wenn nie­mand außer einem selbst da ist, Wind weht altes Zeitungspapier über einen lee­ren grauen Parkplatz, wilde Gebüsche und Gras wach­sen in den lie­gen­ge­las­se­nen Trümmergrundstücken, mit­ten in der Innenstadt, ein Bauzaun ist blau ges­tri­chen, an den blauen Bauzaun ist ein Schild gena­gelt, Plakate ank­le­ben Verboten, die Plakate, Bauzäune und Verbote machen wei­ter, die Fahrstühle machen wei­ter, die Häuserwände machen wei­ter, die Innenstadt macht wei­ter, die Vorstädte machen wei­ter. Einmal sah ich eine Reklame für elek­trische Schreibmaschinen in einem Schaufenster, worin Büromöbel aus­ges­tellt waren. Ein Comicbildchen zeigte, wie jemand Zeichen in eine Steinplatte schlug, und eine Fotografie zeigte eine Schreibmaschine. Ich war ver­blüfft. Wo ist der Unterschied, fragte ich mich. Sie woll­ten mir doch damit einen Unterschied klar machen. Hier sitze ich, an der Schreibmaschine, und schlage Wörter auf das Papier, allein, in einem klei­nen engen Mittelzimmer einer Altbauwohnung, in der Stadt. Es ist Samstagnachmittag, es ist Sonntag, es ist Montag, es ist Dienstagmorgen, es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es ist Samstag und Sonntag. Es ist ein ers­taun­liches Gefühl, meine ich, das den Verstand ers­taunt. Nun erin­nere ich mich, an mich selbst, und da gehe ich eine lange Strecke zurück, gehe|über warme Asphaltschichten von Seitenstraßen, die Turnschuhe kle­ben daran, aus einer Musikbox, ganz weit zurück, kommt Rock’n’Roll-Musik und läßt mich die latei­nische Übersetzung ver­ges­sen. Ich haue ab, trete über verhar­schte Wiesen im Winter, auße­rhalb des Ortes, schleppe die Schultasche mit den Büchern mit mir herum, bis Mittag ist und ich zum Mittagessen kann, hell­weiße kalte Vormittage in Norddeutschland mit den Wetterberichten nach den Nachrichten. Zwischen den weißen, fri­schen, zusam­men­ge­leg­ten Bettlaken im Schlafzimmerschrank lag immer eine kleine matt­sch­warz glän­zende Pistole, bequem für eine Handtasche. Und wie war das Wetter, als ich gebo­ren wurde ? Meine Eltern waren jung, sie spra­chen deutsch. Ich mußte das erst ler­nen, man wächst immer in eine schon ges­pro­chene Welt rein. Das Lernen macht wei­ter. Deutsch macht wei­ter. Wiesen im Winter und warme Asphaltstraßen machen wei­ter, die Straßenecke macht wei­ter, die Wetterberichte machen wei­ter, die Bücher machen wei­ter, Pistolen, Schultaschen, Turnschuhe machen wei­ter. Die Nachrichtensprecher machen wei­ter. Der Sonntag macht wei­ter. Der Montag macht wei­ter. Der Postbote macht wei­ter. Der Dill macht wei­ter, und die Blätter machen wei­ter, die Zwiebeln, die Kuh, die Steine, der Film. Der Schallplattenspieler, repa­riert, macht wei­ter. Auch die Interpretationen machen wei­ter. Es sind die Bücher. Ich muß bei die­sem Satz sehr lachen. Das Lachen ist ange­nehm. Als ich in einem gräß­lich ein­ge­rich­te­ten Apartment in Austin mor­gens gegen fünf Uhr auf dem voll­ge­pack­ten Koffer kniete und die Kofferschlösser zuzu­krie­gen ver­suchte, hörte ich aus dem Radio ein Lied, das mir sofort, nach­dem es ange­fan­gen hatte, gefiel. Ich stelle das Lied, so wie ich es nach der Schallplatte auf­ges­chrie­ben habe, als erstes Gedicht hie­rher, denn mir gefällt es noch immer, und ich denke, daß das Lied gut als Zitat für meine Gedichte paßt. Der Beifall macht wei­ter, die Wörter machen wei­ter, die Knöpfe machen wei­ter, der Stoff macht wei­ter, das Marihuana macht wei­ter, was hat die Grammatik mit Marihuana zu tun ? Das Marihuana war sanft und wür­zig. Die teue­ren Vororte sind durch Stille gesi­chert. Manchmal gibt es dort keine Fußgängerwege, und nur manch­mal sieht man, beim Hindurchgehen, ein erhelltes Fenster, ganz oben, unterm Dach. Davor wer­den Bäume bewegt. Im Moment habe ich kei­nen Hunger, obwohl ich weiß, daß der Hunger wei­ter­macht, der Moment wei­ter­macht, die Erde wei­ter­macht, die sozia­len Lagen machen wei­ter, und der Hund, der in der Nachbarwohnung ein­ges­perrt ist und schon den gan­zen Morgen bellt, macht wei­ter. »Die Erklärung ist sinn­los. Der Finger ist spra­chlos«, wie R.D. Laing sagt. Ich blät­tere durch Bücher. Ich fliege etwas und sehe : »So wie der Nahrungstrieb sich sub­jek­tiv als Hunger und objek­tiv als »Tendenz« zur Erhaltung des Individuums prä­sen­tiert, so der Sexualtrieb sub­jek­tiv als Bedürfnis nach Sexualbefriedigung und objek­tiv als »Tendenz« zur Erhaltung der Art. Diese objek­ti­ven Tendenzen< sind aber keine kon­kre­ten Gegebenheiten, son­dern bloß Annahmen. Es gibt in Wirklichkeit eben­so­we­nig eine Tendenz zur Erhaltung der Art wie eine solche zur Erhaltung des Individuums.« Erstaunlicher Wilhelm Reich, schöne Sexualität, die wei­ter­macht, und tatsä­chlich, Utopia ist eine Kiste. Das Geld macht wei­ter, und die Zusammenbrüche, wie die Songs wei­ter­ma­chen. Ich hätte gern viele Gedichte so ein­fach ges­chrie­ben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spie­len, ich kann nur Schreibmaschine schrei­ben, dazu nur stot­ternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manch­mal gelun­gen, die Gedichte ein­fach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür auf­zu­ma­chen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Mag sein, daß deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht sin­gen. Man muß in die­ser Sprache meis­tens immer­zu den­ken, und an einer Stelle hörte ich, wie jemand fluchte : Ihr Deutschen mit Euren Todeswünschen, wenn Ihr sprecht ! Bezogen auf die Erfindung der Psychoanalyse stimmt das. Was für Entzückungen eine Straße ent­lang­zu­ge­hen, wäh­rend die Sonne scheint. Die Gedichte, die ich hier zusam­men­ges­tellt habe, sind zwi­schen 1970 und 1974 ges­chrie­ben wor­den, zu den ver­schie­dens­ten Anlässen, an den ver­schie­de­nen Orten, ob sie gut sind ? frag­st Du. Es sind Gedichte. Auch alle Fragen machen wei­ter, wie alle Antworten wei­ter­ma­chen. Der Raum macht wei­ter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.

R.D.B. 11./12. Juli 1974, Köln

« Vorbemerkung »
Künstliches Licht [Westwärts (1975)]
Reclam 1994
p. 98–101